Leserbrief zu „Soll ich Faust lesen?“

Sollte man den Artikel „Soll ich Faust lesen?“ überhaupt lesen? Bevor diese Frage am Ende
beantwortet wird, erzähle ich erst mal, worum es in seinem Artikel eigentlich geht. Auf einer
3⁄4 Seite Text, der zu knapp 30 % aus einer Inhaltszusammenfassung besteht, teilt der Verfasser
seinen Unmut gegenüber dem Werk Faust Der Tragödie Erster Teil von Johann Wolfgang
Goethe mit.

Obwohl es meiner Erfahrung nach beim Äußern von Kritik an einem Werk von Vorteil ist, erst
einmal sachlich zu bleiben, wird der Verfasser schnell ausfällig. Schon der Titel des Werks
stört ihn, denn er sei „komplett veraltet“. Ein nicht modern genug klingender Titel ist jedoch
wirklich kein Argument, welches man gegen ein über 200 Jahre altes Werk aufbringen kann.
Wenn der Verfasser dies anders sieht, dann kann sich sein Opa schon mal auf Beleidigungen
wegen eines zu alten Vornamens vorbereiten und die Kirche sich auf einen Antrag zur Umbe-
nennung der Bibel freuen.

Nach diesem nicht wirklich aussagekräftigen Argument beginnt der Verfasser, den Inhalt des
Werks darzustellen und nutzt dazu auch eine Sprache, die tatsächlich modern wirkt. Der Ver-
fasser bleibt seinen Prinzipien treu und dafür hat er sich Lob verdient. Das Lob stammt jedoch
nicht von den Lehrkräften, die ihn in Mathe unterrichten, denn da gibt es noch Nachbesse-
rungsbedarf. Wer auch den Fehler in „Nachdem der Wissenschaftler Faust, ca. 50 Jahre alt,
[…] 30 Jahre jünger wird, gerät er an die halb so junge Gretchen, 14 Jahre.“ findet, hat sich
einen kleinen Preis verdient. Mal abgesehen davon, dass die junge Frau zu diesem Zeitpunkt
noch Margarete heißt, vergisst der Verfasser in seiner Inhaltszusammenfassung alle drei Rah-
menhandlungen. Weder die Zueignung eines alten Dichters noch das Vorspiel auf dem Theater
oder der für das Werk unerlässliche Prolog im Himmel mit der Scheinwette zwischen Mephis-
topheles und dem Herrn beachtet der Verfasser.

Der größte Kritikpunkt des Verfassers an Faust ist jedoch halbwegs gerechtfertigt. Er stört sich
besonders an den Reimen, „in denen das GESAMTE BUCH !!!!!!!!!! geschrieben ist“ (Ja, das
ist wirklich ein Zitat aus dem Text, Großbuchstaben und zehn Ausrufezeichen). Obwohl die
Art, diese Kritik zu vermitteln, es nicht sofort erahnen lässt, stimmt sie in Teilen. Die Reime
sorgen dafür, dass das Werk neue Lesende im ersten Moment vielleicht abschreckt, außerdem
können sie verwirren und den Inhalt nicht sofort eindeutig vermitteln, doch sind sie eben auch
viel mehr als nur Reime. Die Sprache der Figuren lässt es zu, ihren Gemütszustand, ihr Wesen
und ihren historischen Hintergrund zu verstehen. Sie macht das Werk erst zu dem, was es ist.
Darüber hinaus ist nicht das „GESAMTE BUCH!!!!!!!!!!“ in Reimen geschrieben (siehe Szene
Trüber Tag. Feld). Wenn das Werk also für den Verfasser wirkt, „als wäre es von einem Grund-
schüler formuliert, der dem Weihnachtsmann sein Gedicht aufsagt“, dann kennt er wohl viele
überaus hochbegabte Grundschüler, die an Weihnachten knapp 4614 Verse aufsagen (mit dem
zweiten Teil sogar 12111 Verse).

Die Meinung des Verfassers zum Werk wird in seinem Text sehr deutlich. Als einzigen posi-
tiven Aspekt der Tragödie nennt er die Eigenschaft, ein echter Klassiker der deutschen Literatur
zu sein, doch diesem Punkt möchte ich noch ein paar weitere hinzufügen.

Durch das Lesen von Faust kann man sich noch heute in eine Zeit zurückversetzen, in der ein
uneheliches Kind zu gesellschaftlicher Ächtung und absoluter Ausweglosigkeit führte, die
Handlung und die Figur Faust sind Projektionsfläche für die damalige Zeit. Doch nicht nur die Probleme der Menschen vor 200 Jahren lassen sich in Faust finden, das Stück zeigt nicht ein-
fach vergangene Handlung, sondern das Leben „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. Die
Universalität des Stoffs macht Faust als Gesamtwerk zeitlos. So wie die Handlung vor 200
Jahren aktuell war, so wird sie es auch in 200 Jahren noch sein, denn das Geschehen zeigt
Grundprobleme des Menschen. Eine genaue Interpretation wird dadurch natürlich nicht ein-
fach, doch genau diese Offenheit sorgt dafür, dass jede/r in der Tragödie ansprechende und
relevante Inhalte finden kann.

Man kann die Handlung natürlich darauf herunterbrechen, dass ein Mann in der Midlife-Crisis
eine Minderjährige schwängert, die daraufhin ihr Kind ertränkt und zum Tode verurteilt wird,
doch dies wird dem Umfang der Tragödie nicht ansatzweise gerecht. Von Glaubensfragen über
Wissenschaftskritik reichen die Themen bis hin zu Goethes Antwort auf die Frage nach dem,
„was die Welt / Im Innersten zusammenhält“. Auch das Klassikerargument wird der Tragödie
nicht gerecht. Manche würden sogar behaupten, Faust sei nicht ein Klassiker, sondern der
Klassiker, der alle anderen Werke übertrifft. Eine inzwischen 18 Jahre alte Umfrage des ZDF
sieht Goethe auf Platz sieben der größten Deutschen aller Zeiten noch vor Einstein (Platz zehn)
und Beethoven (Platz zwölf), darüber hinaus nutzen wir noch heute Sprichwörter, die zum
ersten Mal in Faust aufgetaucht sind. Das Werk verbindet die Generationen, die die Tragödie
in der Schule lesen durften und sorgt noch immer für Gesprächsstoff. Der in Versen verfasste
Charakter der Tragödie klingt aus heutiger Sicht natürlich ungewohnt, doch die Leistung, über
12000 Verse so aufeinander abzustimmen, dass sie auch 200 Jahre später noch verstanden wer-
den können, während man sich zeitgleich an Formen hält und mit der Sprache Rückschlüsse
auf den Inhalt zulässt, kann nicht mit einem kleinen Weihnachtsgedicht verglichen werden. Ein
Text ohne Reime, bekannt aus quasi jedem Roman wäre vielleicht einfacher zu lesen und zu
verstehen, doch er schafft es eben nicht, mit Goethes Versen mitzuhalten.

Darüber, ob es sinnvoll ist, Faust immer wieder in den Themenkorridor des Abiturs aufzuneh-
men, während andere Werke nebensächlich bleiben, lässt sich natürlich streiten, doch die
Frage, ob Faust Der Tragödie Erster Teil lesenswert ist, stellt sich mir nicht. Trifft die Tragödie
nicht den eigenen Geschmack und findet man selbst keine interessanten Themen im Stoff, hat
sich das Lesen trotzdem gelohnt. Man kann nicht nur behaupten, Faust mal gelesen zu haben,
sondern ist auch um Erfahrungen reicher. Ich selbst war nach dem ersten Lesen des Werks
nicht überzeugt, sondern eher skeptisch, doch je mehr man sich mit der Handlung, der Sprache
und allem drum herum auseinandersetzt, desto deutlicher werden die Vielschichtigkeit und der
Umfang der Tragödie.

Allen, die nach dem Artikel abgeschreckt sind und nun Angst davor haben, in den nächsten
Jahren selbst im Unterricht mit Faust konfrontiert zu werden, möchte ich sagen, dass es sich
lohnt, zuallererst selbst zu lesen, bevor man sich von anderen sagen lässt, wie grandios oder
abgrundtief schlecht das Werk wäre. So komme ich zur bereits am Anfang angekündigten Ant-
wort auf die Frage, ob man den Beitrag lesen sollte und diese lautet „Nein“. Unsachliche Texte
vermiesen nur das Erlebnis, das Werk selbst zu lesen und sich einen eigenen Eindruck zu ver-
schaffen.

– Ole B.

PS:

Wer jetzt ein wenig auf den Geschmack gekommen ist und gern selbst einmal in Goethes
Tragödie hineinlesen möchte kann das unter
https://de.wikisource.org/wiki/Faust_-_Der_Trag%C3%B6die_erster_Teil
ganz einfach tun.

PPS:

Nennt Faust in Klausuren am besten niemals „Buch“, bei Frau Christiansen heißt ein-
mal „Buch“ auch einmal Kuchen für die ganze Klasse.

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