Meine Zeit in Chile

Vor rund einem Jahr bin ich in einem sehr fernen relativ unscheinbaren und ungewöhnlichen Land
angekommen, ich habe mit einem sehr gewöhnlichen Auslandsjahr ohne großartige gerechnet,
doch das war, nun ja, nicht ganz der Fall.
Ich möchte nicht übertreiben, es wirkte jetzt für mich persönlich nicht besser oder schlechter als
andere Auslandsjahre oder Austausche, doch war es durch die äußeren Umstände schon
ungewöhnlich.
Am 23. August bin ich am Flughafen von Santiago de Chile angekommen, zusammen mit rund 20
anderen deutschen Austauschschülern bin ich 18 Stunden im Flugzeug gewesen. Zusammen
haben wir dort am Flughafen auf die anderen Austauschschüler, die in meinem Rotarydistrikt
waren, gewartet. Wir waren rund 80 Jugendliche aus der ganzen Welt, mit den meisten Leuten
aus Deutschland, den USA und Frankreich. Als wir uns alle erstmal etwas unterhalten haben ging
es dann los zum Einführungswochenende, auf dem wir Kennenlern-Spiele gespielt, die Regeln
von Rotary gelernt und die chilenische Kultur etwas angeguckt haben.
Man hat direkt Freundschaften geschlossen und sich auch nicht so verloren gefühlt, da alle in der
gleichen Situation waren.
Nach diesem super schönen Wochenende in El Quisco an der Küste ging es dann nach San
Bernardo, meinem Gastort. San Bernardo ist seit einiger Zeit offizieller Teil von Santiago, und hat
rund 300.000 Einwohner (es wirkt allerdings nicht annähernd so groß). Es ist mit dem Metro-Tren
(Zug) ung. 40 Minuten von Santiagos Stadtzentrum entfernt. In San Bernardo habe ich in einem
Stadtteil, namens Las Lomas de Mirasur etwas außerhalb der Stadt, aber in der nähe der Mall,
gewohnt

Am 25. August habe ich dann voller Aufregung meine neue Familie das erste Mal gesehen. Es war
ein sehr herzlicher Empfang obwohl ich lediglich meine Gastschwester verstehen konnte, welche
Englisch spricht. Meine Gastmutter und meinen Gastvater konnte ich gar nicht verstehen, da ich
am Anfang noch kein Spanisch sprach. Die Mütter von jeweils meinem Gastvater und meiner
Gastmutter waren zu Hause, da meine eine Gastschwester am folgenden Tag nach Frankreich
flog. Wir aßen für mich zur Begrüßung und für meine Gastschwester zum Abschied Sopaipillas,
eines der chilenischen Nationalgerichte. Meine Gastmutter hatte außerdem eine Torte gebacken
und dazu zwei Tonfiguren die jeweils mich und meine Gastschwester darstellen sollten. Am Abend
kamen dann noch Freunde meiner Gastschwester zu Besuch, wovon einige zukünftige
Klassenkameraden von mir waren. Ich habe nichts von dem, was sie gesagt haben, verstanden,
allerdings haben sie mir direkt einige chilenische Begriffe und Schimpfwörter beigebracht, wie
man das mit Austauschschülerin halt so macht. Das Lieblingswort eines jeden Chilenen
ist ,,Weon”, was so viel wie „Freund“ bedeutet, es kann allerdings auch als Schimpfwort benutzt
werden und ist eher informell, du solltest es also am besten nicht zu deiner Großmutter oder zu
deinen Lehrern sagen.
Das chilenische Spanisch hat sehr viele eigene Wörter, da es sehr durch die Sprache der
Mapuche, einer Gruppe Chilenischer Ureinwohner, beeinflusst wurde. Die meisten Südamerikaner
sagen, dass chilenisch das komischste Spanisch überhaupt sei und verstehen Chilenen, wenn sie
reden, kaum. Ich persönlich kann sagen, dass es schwieriger ist, in Chile Spanisch zu lernen, als
in anderen Spanisch sprechenden Ländern, da man in Chile sehr viele grammatikalische Fehler
macht und eher ,,unkorrektes” Spanisch spricht. Durch das bloße Hören von chilenisch ist es sehr
schwer, die grammatikalischen Regeln zu lernen, weshalb ich diese auch eigenständig gelernt
habe.

Ich habe mich schnell sehr wohl in meiner Gastfamilie gefühlt und konnte auch schon nach 1-2
Wochen Gespräche, vor allen Dingen mit meiner Gastmutter, führen, was auch durch meine sehr
sehr netten Mitschüler, die sich im Gegensatz zu Deutschen sehr für uns Austauschschüler
interessiert haben, gefördert worden ist. Es war ein Vorteil, dass bis auf meine Gastschwester
niemand in meiner Familie Englisch sprechen konnte, da ich so ständig mit Spanisch konfrontiert
war. Ich habe in den ersten Wochen einen sehr großen Fortschritt gehabt, der sich dann in den
Monaten darauf verlangsamt hat, was allerdings normal ist.
Ich habe mich sehr schnell sehr gut mit meinen Mitschülern und mit den anderen
Austauschschülern aus meinem Rotary Club in San Bernardo angefreundet. 50 m von meinem
Haus entfernt wohnte Romain, ein französischer Austauschschüler, mit dem ich mich zu Beginn
so gut wie jeden Tag traf, um entweder in die Mall, oder ins Fitness Studio zu gehen.
Nach einem Monat freundete ich mich dann immer besser mit Victor, einem Neuseeländischen
Austauschschüler an, der ebenfalls nur rund 50 m von mir entfernt wohnte. Er wurde einer meiner
besten Freunde überhaupt und wir haben immer noch sehr viel Kontakt. Im Allgemeinen habe ich
mich sehr gut mit allen Austauschschülern verstanden und habe nun Freunde in Dänemark,
Italien, Frankreich, den USA, Belgien und den Niederlanden.
Wir lernten uns alle noch wesentlich besser auf den zwei Reisen kennen, welche von meinem
Distrikt organisiert worden sind, die erste in die Atacama Wüste, die trockenste Wüste der Welt,
und die andere 4000 km weiter Südlich nach Patagonien, die südlichste Region auf den von uns
bewohnten Kontinenten. Auf beiden Reisen habe ich in Worten unbeschreibliche Natur gesehen.
Von Trockenen Wild-West Landschaften bis zu Jahrtausende alten Gletschern.
Durch eine Klassenfahrt nach Argentinien habe ich dann auch noch mehr chilenische Freunde
gefunden, mit denen ich auch immer noch Kontakt habe.

Doch wie war es überhaupt anzukommen? Nicht in Atacama oder Patagonien, sondern in Chile,
einem komplett neuen Land mit einer anderen Kultur, anderen Sitten und Bräuchen?
Ich muss zugeben, dass ich nicht erstaunt war wie unterschiedlich es ist sondern wie ähnlich es
doch zu Deutschland ist. Natürlich gibt es klare und große Unterschiede, aber über diese war ich
nicht erstaunt, diese habe ich erwartet. Was mich erstaunt hat ist, dass sie die gleichen Filme
schauen, die gleichen Smartphones und die gleichen Programme benutzen. Obwohl die Eltern

und Großelterngenerationen konservativer und strenger sind als in Deutschland, ist die junge
Generation genauso liberal und weltoffen wie unsere. Man merkt dort die wahren Ausmaße von
social media und der Globalisierung.
Der größte Unterschied, von dem ich mich in Deutschland erst wieder abgewöhnen musste, ist
tatsächlich einer der banalsten, die Begrüßung und der Abschied von Frauen/Mädchen, welche
man in Chile immer mit einem angetäuschten Kuss auf die Wange begrüßt. Eigentlich berührt man
allerdings nur die Wange und man küsst in die Luft. Das ist in so gut wie jedem
Südamerikanischen Land der Fall (auch ähnlich zu Frankreich). Es war komisch anzusehen, wenn
in Videos deutschen Frauen die Hand gegeben wurde.
Es gibt noch viele andere Unterschiede, es würde bloß zu lange dauern alle aufzuzählen.
Ein großer Unterschied ist jedoch die politische Lage, welche auch meine Situation in Chile
beeinflusst hat.

Von 1973 bis 1990 hat in Chile der Diktator Pinochet regiert, welcher nicht gestürzt wurde o.
Sonst. sondern selber die noch heute geltende Verfassung mit verfasste und seine Diktatur
langsam in eine Demokratie überführte. Eine Demokratie mit vielen Lücken.
In Chile herrscht eine riesige soziale Ungerechtigkeit, welche vor allen Dingen durch das
Bildungssystem und die große Schere zwischen Arm und Reich deutlich wird. In Chile gibt es drei
verschiedene Schultypen. Einmal die staatlichen Schulen (kostenlos), einmal die privaten, vom
Staat unterstützten Schulen (rund 80 euro im Monat) und dann noch die komplett privaten (von
200 bis 2000 euro im Monat). Wie man es nicht anders erwarten würde, sind die staatlichen meist
miserabel und die privaten mit Abstand die besten. Ich war auf einer vom Staat unterstützen
Schule, welche einen sehr guten Ruf hatte. In Chile hängt es sehr von deiner Endnote ab, was du
später einmal arbeiten wirst. Diese hängt allerdings oft sehr stark von der Schule und dem
Lernumfeld ab, welches in den staatlichen Schulen sehr schlecht ist. Dazu kommt noch, dass die
Universitäten sehr teuer sind und die Familien, die ihre Kinder auf staatliche Schulen schicken,
sich diese nicht leisten können. So entsteht ein Teufelskreis, die Armen bleiben arm und die
Reichen werden immer reicher.

Ich finde es immer sehr kitschig, wenn ehemalige Austauschschüler sagen, dass ihr Austausch
die beste Zeit in ihrem Leben war, und ich würde auch bei mir eher das Wort ,,beste´´
durch ,,prägendste “ Zeit ersetzen. Versteht mich nicht falsch, es war auf jeden Fall die ,,beste´´
Zeit in meinem bisherigen Leben, aber was mich daran stört ist, dass man sich eine solche Zeit
meist als pure Entspannung oder nur Spaß vorstellt. Es war eine Zeit voller Herausforderungen
und Hindernissen, man ist alleine in einem komplett neuen Land ohne jegliche Freunde oder
Bekannte, mit einer fremden Sprache und einer fremden Kultur. Es liegt vollkommen an einem
selbst wie man diese Zeit gestaltet, da hilft dir niemand, nicht wie das oft in Deutschland der Fall
ist. Ich will es nicht überdramatisieren, aber lediglich sagen, dass ein Austausch nichts für
jemanden ist, der Bock auf ein Jahr Urlaub hat.
Ich habe meinen Austausch meist als Kapitel oder Herausforderung gesehen, aus der ich als eine
Art neuer Mensch mit neuen Erfahrung und neuen Kenntnissen wieder komme.
Es war meiner Meinung nach trotz aller Komplikationen und Verkürzung, ein reiner Erfolg und ich
kann jedem, der auch nur überlegt einen Auslandsaufenthalt während oder nach der Schulzeit zu
machen, zu 100% empfehlen (unabhängig vom Gastland) es zu tun.

PS: Bei wem es am Geld scheitern sollte, sollte sich über den Rotary Youth Exchange informieren,
da dort die Arbeit vor Ort komplett ehrenamtlich getätigt wird und man „nur“ den Flug, die
Versicherung und eine relativ geringe Pauschale bezahlen muss. (Der Rotary Club vor Ort hilft oft
bei der Finanzierung der Reisen)

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