„Bleib gesund!“

Knapp eine Woche nach dem Lockdown erhielt ich die ersten Mails, in denen die Absender auf die Abschiedsformel „Bleiben Sie gesund!“ zurückgriffen. Vorab hatte ich diese Floskel bereits am Telefon gehört. Bereits dort stieß sie mir – ohne dass ich wirklich wusste, wieso – bitter auf. Was missfiel mir nur an diesen Worten? Nach ein paar Tagen hinterköpflichen Grübelns konkretisierten sich die Gründe für meine Antipathie gegenüber diesem doch ursprünglich wohlgemeinten Satz…

– „Bleib gesund!“ –

Jedes Mal, wenn ich diese Worte las oder hörte, sei es nun in Nachrichten von Freunden, Emails von Schülern oder Kollegen, in Talkshows oder ganz einfach vom Nachbarn, der seinen Briefkasten leerte, machte es mich regelrecht krank. Oder genauer gesagt: Ich fragte mich eher, ob ich nicht vielleicht schon lange krank sei. Man müsste es ja nicht direkt spüren, vielleicht war man ja krank, ohne es zu selbst zu wissen. Vielleicht gehörte man ja einer unbekannten Risikogruppe an. Sollte man womöglich einmal zum Arzt gehen und sich durchchecken lassen? So viel sei gesagt: Sich permanent zu fragen, ob man nicht vielleicht krank sei (um dies zu diagnostizieren, braucht man nicht zum Arzt zu gehen, da reicht der gesunde Menschenverstand), ist alles andere als gesund. Und für all diejenigen, welche eine vereinzelte unserer wenigen anthropologischen Konstanten vergessen haben sollten: Das Leben endet erschreckend häufig mit dem Tod.

– „Bleib gesund!“ –

Die permanente Konfrontation mit diesem Ausdruck im Alltag machte mich zunehmend wütender. „Was wollt ihr denn alle von mir?“ Meine Gesundheit lag diesen mir zum Teil wildfremden Menschen ja vorher auch nicht am Herzen! Diese Menschen werden doch wohl nicht alle über Nacht zu Altruisten geworden sein?
Peu à peu nahm ich die triviale Sorge meiner Mitmenschen um mein Wohlergehen aber auch als Imperativ im Sinne eines „Du darfst nicht krank werden!“ wahr, dessen Argumentation in etwa folgendermaßen hätte lauten können: „Wenn du krank wirst, dann wird es dir nicht gut gehen. Außerdem gefährdest du hierdurch womöglich andere und weder das eine noch das andere kannst du ernsthaft wollen, oder?“ Als ob ich mich jemals bewusst
dazu entschieden hätte, krank zu werden oder mutwillig andere Leute anzustecken! (Ich erspare mir an dieser Stelle, auf Themen wie Corona-Parties oder fragwürdige Selbstexperimente einzugehen.) So meint es natürlich keiner. Es wäre ja auch lächerlich, diese besondere und vor allem neuartige Situation in unserem Leben in einen solchen alles verallgemeinernden Kontext zu gießen. Aber unterbewusst geschieht dies bei einigen Menschen vielleicht doch, insbesondere weil wir uns diese allgegenwärtige Komponente der Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen in der Vergangenheit nicht permanent
ins Bewusstsein rufen mussten. Selbstverständlich darf man heutzutage noch krank werden. Welche übergeordnete Macht sollte einem dies verbieten wollen? Wozu sollten die historischen Errungenschaften „Sozialversicherung“ und „Krankenkasse“ denn sonst existieren? Und nur, weil man krank ist, stellt man ja noch lange keine Gefahr für die anderen dar.

– „Bleib gesund!“ –

Diese Floskel, die, so kommt es mir zumindest vor, zwischenzeitig den Status eines schlechten Mantras einnahm, erinnert aber auch an unsere fleißinfizierte Arbeitswelt, in der man seine Krankheit verschiebt – als ob man Krankheit planen könnte –, „Es sind momentan so viele krank, da kann ich nicht auch noch krank werden“, „Ich muss unbedingt die Deadline einhalten, danach kann ich ruhig krank werden.“ Wer über solche Aussagen einmal intensiver nachdenkt, merkt, dass er auf lange Sicht vielmehr dem Imperativ „Werde krank!“ folgt und die ansteckende Wirkung eines solchen Verhaltens im Kollegenkreis
nicht nur körperlich befördert, sondern auch dafür sorgt, dass diese Einstellung in den Köpfen der vermeintlich Gesunden viral geht. Einige Krankenkassen erstatten einem übrigens rückwirkend einen Teil der gezahlten Mitgliedsbeiträge, wenn man ihre Dienste im vorherigen Versicherungsjahr nicht in Anspruch genommen hat. Da sagt die private Urlaubskasse nicht nein. Wer spart, der hat. Ein wenig angeschlagen, aber nicht angezählt, nur ein bisschen infiziert, aber nicht krank; von wegen. Wem wollen wir chronisch Kranken etwas beweisen? Laut aktuellen Nachrichten scheint die Zahl der Krankschreibungen im
März diesen Jahres so hoch zu sein, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Sollte hier etwa ein Umdenken stattgefunden haben? Im Kopf des einzelnen wohl eher nicht. # stay at home; auch wenn es sich nur um einen Schnupfen handelt: Eine Anordnung von höchster Stelle, welcher der pflichtbewusste Arbeitnehmer nur mit einem schlechten und von Zynismus begleiteten Gewissen nachkommt. Kein Zeichen von Ein- oder gar Weitsicht, denn so „positiv“ der hohe Krankenstand dieser Monate auch zunächst erscheinen mag, die Zahl der ausgestellten, aber nicht in Anspruch genommenen Facharztüberweisungen stieg zuletzt genauso rasant an und dies leider unabhängig von zwischenzeitlichen Terminabsagen seitens der Fachärzte; also doch kein Terminstau (beim Hämatologen, beim Kardiologen oder beim Onkologen). Diese Symptomatik bedürfte ihrer ganz eigenen Diagnose. Doch was machen all diese Menschen (die wir selbstverständlich alle nur vom Hörensagen kennen) nur mit ihrer neugewonnen Zeit, die sie nicht mehr in den überfüllten Wartezimmern vermeintlich überflüssig gewordener Arztpraxen zubringen? Was macht die Bevölkerung bloß mit ihren sich stapelnden Überweisungen zum Facharzt? Näht sie aus ihnen Masken, um regelkonform shoppen gehen zu können? „Bleib zuhause?“; dass ich nicht lache!


– „Bleib gesund!“ –


Und was ist mit denjenigen, die eben nicht gesund sind und es auch nicht erst seit gestern nicht sind? Die Aufforderung, gesund zu bleiben, kann doch für diese Menschen unmöglich gelten. Welch Fettnäpfchen, eine schwer kranke Person an ihre Krankheit zu erinnern, indem man ihr das Unmögliche befiehlt. Ein „Gute Besserung!“, das von solchen, nicht selten sowieso schon von Selbstzweifeln geplagten Personen womöglich noch als ein „Gute Besserung! Werde schnell wieder gesund, aber dann bitte nicht gleich wieder krank!“ verstanden würde, trüge auch nicht wirklich zu ihrer Genesung bei – im Gegenteil. Was sollte
aber auch unter einem „gesunden Menschen“ zu verstehen sein? Ich bin kein Biologe oder Mediziner, aber aus philosophischer Perspektive tendiere ich zu der Behauptung, dass es „den“ gesunden Menschen, geschweige denn „die“ gesunde Menschheit, per definitionem nicht gibt. Dafür scheint mir auch der ursprünglich aus dem medizinischen Bereich entlehnte Begriff der „Krise“ von noch immer zu großer und auch wortwörtlich lebensbejahender Bedeutung in unserem gesellschaftlichen Alltag zu sein. Körperliche Gesundheit ist kein immerwährender Zustand, sondern ein zeitweiliges Glück,
das in unserer von Nahrungsergänzungsmitteln durchtränkten Gesellschaft vielleicht nicht überwertet wird, aber doch häufig in einem verkehrten und in einem die „gesunde“ Gesundheit nicht unbedingt erhellendem Licht erscheint. Aus dieser Perspektive ist Gesundheit ein Gut, dass sich nur ex negativo über den Ausschluss von Krankheiten definieren lässt. Doch wer sein Leben lang versucht herauszufinden, ob er nicht vielleicht krank ist, wird die Antwort hierauf vermutlich eher finden als ihm lieb ist; spätestens wenn er das Wörtchen „Zwangsneurose“ googelt. Unter einem guten Leben verstehe ich etwas anderes. Unter einem guten Leben verstehe ich etwas anderes.

– „Bleib gesund!“ –

Dies ist aber auch der teils unreflektierte, teils ironisch gemeinte Abschiedsgruß einer gewissen Sorte Mensch, die den aktuellen Kontext dieser Aufforderung entweder aufgrund alltagsbedingter Gewöhnung vergessen hat, ihn gekonnt verdrängt oder aber nie wirklich ernst genommen hat; physisch anwesend, sozial distanziert, gedanklich immun. Es scheint mir fast schon weniger ein Phänomen sozialen Desinteresses als vielmehr ein Anzeichen menschlicher Ignoranz und Dummheit zu sein, wenn insbesondere diejenigen, die ein verstärktes persönliches Interesse daran haben sollten, Abstand zu halten, anderen
Menschen plötzlich auf die Pelle rücken (von den Personen, die bereits zuvor für das eigene Wohlbefinden in der persönlichen Komfortzone nicht förderlich waren und nun meinen, aus unerfindlichen Gründen zusätzlich auch noch auf Tuchfühlung mit einem gehen zu
müssen, einmal ganz abgesehen). Und dann diese anderen: Mein ehemaliger Nachbar (ca. Ende 60, mit seit Jahren immer
wieder auftretenden Lungenentzündungen und einer erst kürzlich attestierten Heilung von Lungenkrebs; ja, dies scheint nun wohl möglich) erkundet den ganzen lieben Tag mit Bus und Bahn Stadt und Umland oder schlendert – hüstelnd mit gebeugter Haltung, das Stofftaschentuch fest zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger geklammert, die Maske mehr über dem Kinn als über Mund und Nase tragend – durch die überfüllten Gänge eines
sehr beliebten und seit kurzem wieder geöffneten Möbelhauses. In diesen Zeiten mit leeren Händen wieder aus einem solchen Geschäft zu kommen – was, unabhängig von einer ursprünglich vielleicht existent gewesenen Kaufintention, wohl absehbar ist, wenn man gerade einmal über die Kraft verfügt, das Taschentuch mit zittriger Hand gen Nase zu heben, – ist meines Erachtens mehr schon als Ausdruck von Hohn und suizidalem Bestreben,
denn als Zeichen von Naivität zu deuten. Aber es ist doch sein gutes Recht! Trotzdem: In Gedanken hätte ich ihn für sein maßloses Verhalten nicht nur kurzeitig gern in Quarantäne, sondern auch hinter schwedischen Gardinen gewusst. „Bis bald vielleicht!“ und „Bleiben Sie gesund!“, schallten seine Worte noch in meinem Kopf nach, während ich – meine Maske auf halb acht – die doch wuchtiger als gedacht geartete Ingatorp im Alleingang über die Schwelle des Lagerregals zog und kurzeitig ins Zweifeln kam, ob ich mir nicht gleich einen Bruch heben würde. „Umzug hin oder her“, dachte ich mir, „Wäre ich mal
lieber zuhause geblieben.“

– „Bleib gesund!“ –

Es ist und bleibt eine Floskel, die mich ungemein nervt. Das Niederschreiben dieser Gedanken hat mir jedoch dabei geholfen, mich ein wenig von dieser Thematik zu lösen, ein wenig Abstand zu ihr zu gewinnen und der Überwindung meiner kleinen persönlichen Krise ein wenig näher zu kommen. Vielleicht war es unterbewusst auch einfach nur der individuelle Versuch, gesund zu bleiben und einer paradoxen Aufforderung nachzukommen.
Das Schreiben längerer Texte ist eine gute Form der Therapie, insbesondere wenn man gerade nicht mit denjenigen Gesprächspartnern beim Kaffee an einem Tisch sitzen kann, die man sich für ein tiefergehendes Gespräch wünscht. Merkwürdig: Das Gespräch mit einem selbst sucht man im Alltag viel zu selten. Warum eigentlich? Lasst uns unseren gesunden Menschenverstand – und den gibt es wirklich – nicht aus den Augen verlieren, denn zwischen Fakenews und Verschwörungstheoretikern mit erschreckend hohem RWert, Desinfektionsmittel trinkenden Akademikern und adrenalinsüchtigen Rentnern, kerngesunden Menschen, die nicht mehr vor die Tür gehen und urlaubswütigen Grenzgängern habe ich inzwischen immer mehr den Verdacht, dass der gesunde Menschenverstand inzwischen auch schon zur Hochrisikogruppe gehört.

von Kevin Fischer, 28.05.2020

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